Die Welthandelsorganisation (WTO)

Welthandelsorganisation

Die Welthandelsorganisation (WTO)

Die Welthandelsorganisation (World Trade Organization, kurz: WTO) ist in ihrer Grundidee eines der zahlreichen ehrgeizigen internationalen Projekte, die Mitte des 20. Jahrhunderts im Schatten der Weltkriege entstanden. Der Anspruch war, grenzüberschreitenden Handel zu erleichtern und somit die Weltwirtschaft anzukurbeln, Zugang zu Rohstoffen zu erleichtern und Instrumente zur Lösung handelspolitischer Konflikte zu entwickeln.

 

Mittlerweile argumentieren viele, dass die WTO in die Jahre gekommen sei. Und tatsächlich fällt es ihr zunehmend schwer, angemessen auf die enormen geopolitischen Veränderungen unserer Zeit zu reagieren. Vor nicht langer Zeit als komplett handlungsunfähig erklärt, sucht sie nun nach ihrer Rolle. Das erste Mal unter weiblicher und afrikanischer Führung. Paradoxerweise könnte ihr gerade die globale COVID-19-Krise wieder zu neuer Stärke verhelfen.

 

Die Ausgangssituation

 

Um Organisationslogiken und Funktionsweisen von politischen Institutionen zu einordnen zu können, muss man ihre Entstehung verstehen. Denn ist so ein großes, komplexes Schiff erst einmal unterwegs, sind grundlegende Kurswechsel schwer. Wie viele internationale Steuerungsarchitekturen, die Mitte des 20. Jahrhunderts entworfen wurden, ist die Welthandelsorganisation anders geraten als ursprünglich geplant.

 

WelthandelsorganisationVor dem Hintergrund der beiden Weltkriege wurden zu dieser Zeit zu zahlreichen internationalen Herausforderungen möglichst konfliktarme Steuerungsinstrumente gesucht. So wie die 1945 gegründete Weltbank für den Wiederaufbau der zerstörten Länder zuständig sein und der im selben Jahr gegründete Internationale Währungsfonds (IMF) für ein stabiles internationales Währungssystem sorgen sollte, versuchten Regierungen sich an der Gründung einer Organisation mit der Aufgabe, den Welthandel zu regulieren und die verschiedenen Volkswirtschaften enger zusammenzuführen.

 

Unternehmen sollten also durch den verlässlichen rechtlichen Rahmen dazu motiviert werden, den internationalen Handel zu intensivieren. Dabei war das stärkere Zusammenwachsen der Volkswirtschaften kein Selbstzweck. Die Verhandlungspartner erhofften sich davon vor allem positive Effekte auf die nationalen Volkswirtschaften wie das Erreichen der Vollbeschäftigung, eine Steigerung der Produktion und eine Erhöhung des Realeinkommens.

 

Das Scheitern der International Trade Organization

 

Auf struktureller Ebene war die Zielvorstellung zunächst die Gründung einer International Trade Organization (ITO) unter dem Schirm der Vereinten Nationen (UN). Allerdings stießen die von vielen Entwicklungsländern geforderten Ausnahmen bei den Handelsbestimmungen auf Kritik vor allem der Vereinigten Staaten. So konnte die Satzung der ITO, die Havanna Charta, nicht wie geplant 1947 ratifiziert werden.

 

Stattdessen schrieb man die grundsätzlichen Aushandlungsergebnisse provisorisch im General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) fest. Das GATT war parallel erarbeitet worden, allerdings sollte es ursprünglich lediglich die handelspolitischen Grundsätze der ITO festlegen. Grundlage für die Regulierung der Welthandelspolitik war somit für Jahrzehnte keine internationale Organisation, sondern ein völkerrechtliches Vertragswerk, das 1948 durch die Unterzeichnung von 23 Ländern in Kraft trat.

 

Das GATT – Vorläufer der Welthandelsorganisation

 

Die grundlegende Aufgabe des GATT war es, Handelshemmnisse zwischen den Vertragspartnern schrittweise abzubauen. So sollten Unternehmen ihren Blick von den Binnenmärkten der stark geschlossenen Kriegswirtschaften wieder vermehrt nach außen wenden. Mit Handelshemmnissen waren langfristig sowohl tarifäre Schutzmaßnahmen – also Zölle und Abgaben – gemeint als auch nicht-tarifäre Beschränkungen wie zum Beispiel Quoten und technische oder rechtliche Vorschriften, die den Zugang zu Märkten erschweren.

 

Daraus leiteten sich zwei zentrale Prinzipien ab: erstens das Prinzip der Gleichbehandlung (die sogenannte „Meistbegünstigungsklausel“), also die Vereinbarung, dass Zollvergünstigungen, die ein Land einem der Vertragspartner zugesteht, automatisch für alle Unterzeichner gelten. Demnach sollen alle behandelt werden wie der Meistbegünstigte. Zweitens, betonte man das Prinzip der Liberalisierung. Protektionismus durch Ein- oder Ausfuhrkontingente sowie Subventionen, Diskriminierung durch besondere Normen und Verfahren oder unfairer Wettbewerb durch Dumping-Praktiken sah man als langfristige Hindernisse eines freien Welthandels.

 

Das GATT formulierte jedoch von Beginn an Ausnahmen von diesen Prinzipien. So sollte etwa die Meistbegünstigungsklausel nicht für Sonderkonditionen gelten, die Vertragsstaaten untereinander in gesonderten Zollunionen oder Freihandelszonen vereinbaren. Ebenso wollten die Unterzeichner Schutzmaßnahmen billigen, wenn sie wie im Falle der Landwirtschaft oder Fischerei mit kritischer Lebensmittelversorgung zusammenhingen. Überdies sollte es Spielräume für die Entwicklungsländer und ihre damaligen Wirtschaften im Aufbau geben.

 

Diese komplexen Vereinbarungen erforderten eine weitere Säule internationaler Handelspolitik, nämlich einen Mechanismus zur Schlichtung von Handelskonflikten. Möglichst unabhängige Schiedsgerichte sollten Befugnisse erhalten, um aufkommende Streitigkeiten zwischen Vertragsstaaten regeln zu können.

 

Etappenziele – die Welthandelsrunden

 

Erreichen wollte man die schrittweise Liberalisierung des Welthandels über mehrjährige Verhandlungsrunden, von denen jede ihren eigenen thematischen Fokus erhielt. Angefangen mit einem Treffen 1948 in Havanna, Kuba, konzentrierten sich die Verhandlungen zunächst auf die Senkung von Zöllen. Parallel gewann das GATT kontinuierlich Mitunterzeichner. So traten auch Deutschland und Österreich 1951 dem Abkommen bei. Die Kennedy-Runde (1964-67) zielte vor allem auf ein Anti-Dumping Abkommen ab, das vor starkem Preisverfall schützen sollte.

 

Die Tokio-Runde (1973-79) markierte den ersten Versuch einer grundlegenden Reform des internationalen Handelssystems – und das unter stark veränderten Kräfteverhältnissen. An den Verhandlungen nahmen mittlerweile 102 Staaten teil. Auch wenn nicht alle davon „Mitgliedsstaaten“ waren, war dennoch spürbar, dass die Entwicklungsländer in den Verhandlungsrunden ein stärkeres Gewicht bekamen. Das schlug sich auch in stärkeren Konflikten vor allem beim Thema landwirtschaftlicher Handelsreformen in den Entwicklungsländern nieder. Diese führten dazu, dass zahlreiche Abkommen nur von einer begrenzten Zahl von Verhandlungspartnern unterzeichnet wurden.

 

Die Gründung der Welthandelsorganisation – die Uruguay-Runde

 

Die bis dahin bei weitem ehrgeizigste Agenda erlegten sich die GATT-Vertragspartner für die Uruguay-Runde (1986-94) auf, in der das Vertragswerk endgültig in eine stetige Welthandelsorganisation überführt werden sollte. Diese Agenda umfasste die Revision der gesamten bis dahin vereinbarten GATT-Texte, sollte die Handelsregulierung auf neue Bereiche ausdehnen, bisherige sektorspezifische Schutzvereinbarungen beseitigen und berührte dabei auch die heiklen Bereiche der Landwirtschaft und des Textilhandels.

 

Auf dem Papier war die Runde ein Erfolg. Weitreichende Zollsenkungen, erstmals auch von Entwicklungs– und Schwellenländern, wurden ebenso vereinbart wie die erste Weltagrarordnung. Eine Liberalisierung wurde mit dem General Agreement on Trade in Services (GATS) auch im Bereich der Dienstleistungen durchgesetzt. So fielen in der Folge auch Unternehmen der Telekommunikation, der Luft- und Seefahrt oder Finanzdienstleister unter die Meistbegünstigungsklausel. Auch bestehende Hemmnisse für Direktinvestitionen wurden verringert.

 

Ein Feld, das langfristig für Sprengstoff sorgen sollte, waren Regelungen zum Patentschutz. Mit den Trade-Related International Property Rights (TRIPS) sollte fortan Patentklau vor allem der Entwicklungsländer und unbefugter Gebrauch geahndet werden. Generell betonte das Abkommen den Schutz geistigen Eigentums und seiner Monetisierung. Dabei strebte die WTO eine enge Zusammenarbeit mit der World Intellectual Property Organization (WIPO) an.

 

Die Organe der Welthandelsorganisation

 

Seit ihrer Gründung 1994 stellt die Welthandelsorganisation ihre Arbeit über drei Hauptorgane sicher. Das höchste ist die Ministerkonferenz der Wirtschafts- und Handelsminister, die mindestens alle zwei Jahre zusammenkommt. Jeder Mitgliedsstaat hat in ihr eine Stimme. Entscheidungen können formell mit einfacher Mehrheit beschlossen werden, allerdings wird in der Praxis nur im Konsens abgestimmt. Gegenstand der Abstimmungen sind Auslegungen bestimmter Abkommen oder auch Ausnahmen für einzelne Mitglieder. Die Leitung der Ministerkonferenzen übernimmt der Generaldirektor oder – wie erstmalig derzeit – die Generaldirektorin.

 

Als ständiges Gremium am WTO-Sitz Genf fungiert der Allgemeine Rat. Der Rat besteht in der Regel aus den Botschaftern der Mitgliedsstaaten und beherbergt das Streitschlichtungsgremium und das Gremium für die Überprüfung der Handelspolitik.

 

Das Streitschlichtungsgremium bearbeitet Handelsstreitigkeiten zwischen WTO-Mitgliedern. Dafür werden Panels mit drei Handels- beziehungsweise Rechtsexperten eingerichtet, die nicht aus den streitenden Ländern kommen dürfen. Das Gremium umfasst auch eine Berufungsinstanz, deren Urteile nur einstimmig von allen WTO-Mitgliedern aufgehoben werden kann. Stellt das Gremium eine rechtmäßige Klage fest, erlaubt es dem Klageland, einseitige handelspolitische Vergeltungsmaßnahmen einzuleiten. Das Gremium zur Überprüfung der Handelspolitik beobachtet regelmäßig und ohne Anlass die Handelspolitik aller Mitgliedsstaaten.

 

Das Sekretariat unter der Leitung der Generaldirektorin hat hauptsächlich beratende Funktion. Es unterstützt die Mitglieder in technischen und rechtlichen Fragen und stellt Analysen und Expertisen zur Entwicklung des Welthandels zur Verfügung. Überdies sorgt es für die Umsetzung der Beschlüsse der Ministerkonferenz und des Allgemeinen Rates.

 

Druck von innen und außen – Seattle und die Folgen

 

Die Gründung der Welthandelsorganisation fiel in eine Phase immer deutlicher sichtbarer politischer Aufladung der internationalen Handelspolitik. Denn anders als vielfach versprochen und von namhaften Experten prognostiziert, verschwand mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes zu Beginn der 1990er Jahre weder die Armut auf der Welt, noch hörten internationale Konflikte auf. Die Welthandelsorganisation hatte hier außer dem mantrahaften Einfordern immer weiterer Liberalisierung, also letztendlich auch der Ausdünnung staatlicher Interventions– und Regulierungsmöglichkeiten, wenig anzubieten.

 

Das entging auch breiteren Bevölkerungsteilen der Industrieländer nicht, die im Namen der Flexibilisierung und Liberalisierung in den 1980er und 1990er Jahren erhebliche sozialpolitische Opfer dargebracht hatten und ihrem Unmut nun hörbarer Luft machten. In vielen Entwicklungsländern war die WTO wegen des starken internen Machtgefälles ohnehin nie besonders populär gewesen, aber ihre Stimme innerhalb der Organisation war spürbar lauter geworden. Mit dieser Stimme machten sie die Weltöffentlichkeit vermehrt auch auf Ungerechtigkeiten der inneren Funktionsweise der Welthandelsorganisation aufmerksam.

 

WelthandelsorganisationAll das mündete 1999 in der in jeglicher Hinsicht desaströsen Ministerkonferenz von Seattle. Schon eine Woche vor der Konferenz gaben die Mitglieder zu, dass sie sich nicht auf eine gemeinsame Agenda geeignet hatten. Der Konflikt spitzte sich dabei immer deutlicher auf die Konfliktlinie Industrie- gegen Entwicklungsländer zu. Wie schon in vorherigen Runden versuchten die Vereinigten Staaten und die Europäische Union die Konferenz in Hinterzimmergesprächen zu retten und ein gemeinsames Abkommen als vollendete Tatsache zu präsentieren. Aber diesmal gab es von Seiten der Entwicklungsländer laute und entschiedene Gegenwehr.

 

Doch nicht nur war die Konferenz inhaltlich erkennbar gescheitert. Die WTO erlebte auch ihr bis dahin schlimmstes PR-Desaster. Auf den Straßen von Seattle formierte sich heftiger Protest gegen die internationale Welthandelspolitik, der letztlich einen vorzeitigen Abbruch der Konferenz erzwang. Viele Menschen hatten genug von neoliberaler Handelspolitik, hinterfragten ihre Mechanismen und der politische Kampfbegriff der „Globalisierungskritik“ verankerte sich erstmals im öffentlichen Bewusstsein.

 

Der Stillstand der Doha-Runde und die Existenzkrise der Welthandelsorganisation

 

Von dieser strukturellen Blockade hat sich die Welthandelsorganisation im Grunde genommen bis heute nicht erholt. Neue Anläufe wurden unter anderem in DohaCancún, Nairobi und Buenos Aires genommen, aber die aktuelle Welthandelsrunde ist nicht entscheidend vorangekommen. Die Welthandelsorganisation steht nun vor der dreifachen Aufgabe die anscheinend kaum überbrückbaren internen Konflikte, eine veränderte weltpolitische Landschaft sowie einen massiven Legitimitätsverlust zu überbrücken.

 

Denn, wenn auch die Meinungen darüber auseinandergehen, ob die Welthandelsorganisation die Kurve in ein neues Zeitalter des Welthandels bekommen kann, so behauptet kaum jemand, dass sie in ihrer jetzigen Form dazu in der Lage ist. Die Welt von heute ist nicht die Welt von 1994 und schon gar nicht die von 1948. Mit den Beitritten Russlands 2012 und vor allem Chinas 2001 sowie dem stärkeren Auftreten der BRIC-Staaten und anderer Schwellenländer innerhalb der G20 hat sich die Grundkonstellation der Organisation komplett verändert. Es reicht nicht mehr, dass sich die USA und Europa auf einen grundlegenden Kurs verständigen. Auch nicht, dass sie versuchen, den globalen Süden mit allerlei entwicklungspolitischen Versprechen an Bord holen. Der Weg nach vorne führt fast ausschließlich über echte, ausgehandelte Einigung.

 

Auch auf Ebene der großen traditionellen WTO-Akteure gibt es erhebliche Interessengegensätze und Konflikte um politische Einflusssphären. Das betrifft nicht nur den Westen und seinen noch immer etwas ratlosen Umgang mit dem stetig und imposant gewachsenen China. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass auch zwischen den großen westlichen Wirtschaften keine grundlegende Harmonie mehr garantiert ist.

 

Das Zeitalter der Blockpolitik ist vorbei, es wird womöglich wieder in wechselnden Allianzen Handelspolitik betrieben. Verhandelt wird nicht nur mit einer immer größeren Anzahl von Akteuren, sondern auch mit einer größeren Gruppe von gewichtigen Vetostaaten. In Verbindung mit dem umfassenden Konsensgrundsatz der Handelsrunden – „nothing is agreed until everything is agreed“ – wird diese Konstellation ein immenses Fortschrittshindernis bleiben.

 

Konkurrenz von Präferenzabkommen

 

Als eine weitere grundlegende Veränderung lässt sich beobachten, dass zahlreiche Freihandelsabkommen einzelner Staaten den Einflussbereich der WTO stark ausgehöhlt haben. Zu den skurrileren Entwicklungen des Brexit gehörten Äußerungen der britischen Regierung, man könne ja trotzdem noch zu normalen „WTO-terms“ mit der EU Handel betreiben, sollte kein erfolgreiches Trennungsabkommen der beiden Partner zu Stande kommen. Jedoch wurde schnell klar, dass de facto kein einziger Staat mehr ohne Einbindung in ein anderweitiges Freihandelsabkommen existiert.

 

Dabei war Artikel 24 des der WTO zu Grunde liegenden GATT-Vertrags, der Ausnahmeregelungen der Meistbegünstigungsklausel für Freihandelsabkommen regelt, eigentlich für die regionale Integration der Entwicklungs– und Schwellenländer gedacht. Die Ausnahmeregelung sollte diesen Ländern helfen, in einer Übergangszeit auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger zu werden. Mittlerweile existieren aber auf Grundlage dieser Ausnahmeregelung mehrere hundert Sonderabkommen, an denen auch Akteure wie die Vereinigten Staaten und die EU beteiligt sind.

 

Dies ist zum einen problematisch für international agierende Unternehmen. Diese müssen nämlich immer mehr Aufwand betreiben, um sich in der Vielzahl von komplexen Sonderabkommen zurechtzufinden. Das geschieht zu Lasten produktiverer Tätigkeiten und sicherer Planung. Zum anderen sorgt es für paradoxe Effekte, weil nun zum Beispiel die EU in Afrika und im Nahen Osten Fluchtursachen bekämpfen will und gleichzeitig für neue sorgt. Denn ihre Präferenzabkommen mit Drittstaaten treffen die lokalen Wirtschaften etwa im Zuliefererbereich empfindlich.

 

Eine veränderte Weltordnung – Wer treibt den Freihandel noch voran?

 

Andere sich verschiebende Konflikte lassen sich zudem da beobachten, wo die geschichtlichen Rollen von Protektionismus und Marktöffnung ins Wanken geraten. Jahrzehntelang ließ sich – abgesehen von den massiven Agrarsubventionen in den USA und der EU – die Grundtendenz feststellen, dass die großen Mitgliedsstaaten die kleinen zu mehr Öffnung drängen. Dies ist nicht mehr so klar gegeben.

 

Die USA haben unter Präsident Trump eine außergewöhnlich laute Protektionismus-Politik betrieben. Die Frustration der USA mit der multilateralen Handelspolitik ging sogar soweit, dass sie sich 2019 weigerten, der Neubesetzung von Schiedsrichterstellen im Streitschlichtungsgremium zuzustimmen, was das Schlichtungsorgan handlungsunfähig machte. Natürlich war das ein besonderer Ausreißer, aber die Tendenz der im Vergleich zum 20. Jahrhundert stärkeren nationalen Ausrichtung wird mit der neuen Regierung nicht gänzlich verschwinden. Und auch in anderen Ländern gibt es Wahlbevölkerungen, deren Globalisierungsoptimismus empfindlich gedämpft ist. Zwar ist mit China ein neuer großer Globalisierungsmotor auf den Plan getreten, aber um die traditionell starken Antreiber der weltweiten Öffnung ist es stiller geworden.

 

So still, behaupten einige, dass die Globalisierung insgesamt ins stocken geraten könnte. Zu groß sitzt zur Zeit die Angst vor sozialen Verwerfungen, zu sehr fürchten einige die Auswirkungen ungebremster Migration. Wirtschafts- wie „identitätspolitisch“ wird Nationalismus so an vielen Orten wieder ein zentrales Wahlkampfthema. Und dort, wo Begeisterung für den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Daten und Menschen nicht vorhanden ist, fehlt sie in der Regel auch für eine Welthandelsorganisation.

 

Umgang mit Umwelt-, Klima-, Sozial und Menschenrechtspolitik

 

Der Widerspruch zwischen dem Ziel, möglichst viele Handelshemmnisse zu beseitigen und dem notwenigen oder gewünschten Schutz der Umwelt, des Klimas sowie von sozial- und menschenrechtlichen Standards war von Anfang an in der WTO angelegt. Probleme entstehen zum einen, wenn diese Standards ausschließlich als unzulässige Handelsbarrieren wahrgenommen werden. Wenn ein Mitgliedsstaat den anderen verklagen kann, weil er das Klima oder Arbeitsrechte schützt – wer garantiert dann, dass es in diesen Bereichen keinen Deregulierungswettlauf „nach unten“ gibt, unter denen die gesamte Weltbevölkerung zu leiden hat?

 

Umgekehrt ist aber auch klar, dass Länder, die in diesen Fragen bereits weiter sind, diese Standards als Vorwand nutzen können, um kleinere Länder zu diskriminieren. Trotz zahlreicher Konflikte um dieses Thema hat die WTO noch immer keine zufriedenstellenden Antworten erarbeitet, um diese Spagat zufriedenstellend zu ermöglichen. Und auch wenn es den Konflikt schon in den erfolgreicheren Handlungsrunden gab, so existiert jetzt ein deutlicheres Bewusstsein dafür, dass es für diese Bereiche dringend möglichst globaler verbindlicher Regeln bedarf. Die Relevanz der WTO wird sich auch daran entscheiden, wie sie mit diesen komplexen Feldern weiter umgeht.

 

Ein veraltetes Regelwerk

 

Nicht nur die politische Konstellation der Mitgliedsstaaten hat sich seit 1994 entscheidend verändert. Auch der Welthandel selbst ist schwer mit der Situation vor drei Jahrzehnten vergleichbar. Der Austausch fertiger Waren nimmt gegenüber internationalen und globalen Lieferketten nur noch eine deutlich kleinere Bedeutung ein. Das stellt auch Regulierungen zum Schutz von geistigem Eigentum oder Investitionsvereinbarungen vor ganz neue Herausforderungen.

 

In dieser ausdifferenzierteren Globalwirtschaft spielen außerdem die spezialisierten kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) eine viel wichtigere Rolle. E-Commerce nimmt zu, der datenbasierte Handel rückt in den Vordergrund. Zu diesen Themen hat das aktuelle Vertragswerk nichts zu sagen. Auch das treibt Mitgliedsstaaten in bilaterale und regionale Abkommen. Zwar gibt es Vorstöße innerhalb der WTO, vor allem durch die USA und die EU, sich nun voll auf diese neuen Regelungsbereiche zu konzentrieren. Allerdings bestehen Staaten wie Südafrika, Indien und China darauf, dass die aktuellen Doha-Verhandlungen dafür erst einmal erfolgreich beendet werden müssen.

 

Bedeutungsverlust oder neue Ära?

 

Zugegebenermaßen sehen die Entwicklungen für die WTO aktuell nicht rosig aus. Die Momentaufnahme zeigt einen politischen Körper in Blockade. Dessen Skelett bedarf einer Überholung, dessen Zuständigkeitsbereich ist ins Wanken geraten und er hat kaum noch entschlossene Fürsprecher. Ihr letzter substantieller Verhandlungserfolg liegt nun bald 30 Jahre zurück.

 

Dennoch wäre es fahrlässig, die Welthandelsorganisation jetzt schon abzuschreiben. Mit dem Streitschlichtungsgremium verfügt sie als einzige internationale Organisation über ein effizientes internes Durchsetzungsinstrument. Da auch die neue US-Regierung unter Joe Biden noch keinerlei Anzeichen gegeben hat, die dortigen seit 2019 vakanten Schiedsrichterstellen neu zu besetzen, existiert das Instrument aktuell nur in der Theorie, aber es ist international legitimiert und erprobt. Überdies zieht die WTO weiter beständig Mitglieder an. Afghanistan ist seit 2016 neuestes von 164 Mitgliedern. Auch der Welthandel wuchs mit einer kleinen Ausnahme in den letzten Jahren kontinuierlich weiter.

 

Die Welthandelsorganisation in der Corona-Krise

 

Möglich auch, dass es der WTO in der aktuellen COVID-19-Krise so ergehen könnte wie dem Internationalen Währungsfonds vor ein paar Jahren in der Finanzkrise. Auch dem IMF wurde ein schleichender Tod prognostiziert. Mit den neuen Herausforderungen der globalen Finanzkrise und einer Weltwirtschaft am Rande des Abgrunds sah er sich jedoch schnell wieder in zentraler Funktion.

 

Aktuell gibt es weltweit wohl kaum eine drängendere Herausforderung als die Produktion und Verteilung von Impfstoffen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie. Mit ihrem Fokus auf Patentrechte und den Schutz von geistigem Eigentum könnte die WTO mit einem erfolgreichen Management der Krise womöglich eindrucksvoll viele Probleme der Welt wie auch ihre eigenen lösen. Die Mitgliedsstaaten könnten wieder Vertrauen in ihre Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft gewinnen und auch die öffentliche Legitimität könnte ganz erheblich steigen. Entscheidend wird hier der politische Wille aller Mitgliedsstaaten sein.

 

Die seit 2021 amtierende Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala hat bereits signalisiert, dass sie große Herausforderungen und tiefgreifende Reformen nicht fürchtet. Dass die USA und mit ihnen 100 weitere WTO-Mitglieder sich für patentrechtliche Ausnahmeregelungen zur Bekämpfung der Pandemie ausgesprochen haben, ist ein vielversprechender Anfang.

No Comments

Sorry, the comment form is closed at this time.