18 Dez. Die Industrialisierung in Deutschland
Vor der Industrialisierung – bis Anfang des 19. Jahrhunderts – war Deutschland ein loser Zusammenschluss kleiner Staaten unterschiedlicher Größe mit einem unterschiedlichen Entwicklungsstand. Mehr als 300 Kleinstaaten mit meist eigenen Währungen, eigenen Gewichten und Längenmaßen und oft auch einer eigenen Zeit waren mehr Flickenteppich denn ein homogener Staat.
Fast jeder Kleinstaat schützte sein Territorium mit eigenen Zöllen. Standesdünkel, das Festhalten an traditionellen Vorstellungen und nicht zuletzt die Leibeigenschaft machten eine wirtschaftliche Entwicklung fast unmöglich. Diese und andere Faktoren ließen Deutschland in der wirtschaftlichen Entwicklung hinter anderen Ländern in Europa zurückfallen.
Beginn der Industrialisierung in Großbritannien
Ab etwa 1780 begann die Industrialisierung in England. Ausgangspunkt war die Erfindung der Dampfmaschine 1712 durch Thomas Newcomen. Die ersten mechanisierten, mit Dampf betriebenen Spinnmaschinen und Webstühlen wurden erfunden und eingesetzt. James Watt verbessert die zunächst nur für den stationären Betrieb geeigneten Dampfmaschinen wesentlich ab 1769. Eine wichtige Voraussetzung für den Bau erster Dampflokomotiven.
Wenn man die Erfindung der Dampfmaschine als Initialzündung ansieht, begann die Industrialisierung in England rund 100 Jahre früher als in Deutschland. Erst nach der Gründung des Deutschen Bundes auf dem Wiener Kongress im Juni 1815 begann nach heutiger Auffassung die Phase der Frühindustrialisierung in Deutschland. Der Frühindustrialisierung gingen wiederum mehrere Jahrzehnte der sogenannten Vorindustrialisierung voraus. In diese Zeit fallen erste gewerblichen Expansionen, die den Beginn des Wandels von einem landwirtschaftlich geprägten Land hin zur Industrienation markieren.
Proto-, Vor – und Frühindustrialisierung in Deutschland

Vor- und Protoindustrialisierung
Gegen Mitte des 18. Jahrhunderts ersetzten in England Dampfmaschinen die teuren Pferde als Antrieb für die Entwässerungspumpen in Bergwerken. Die ersten Wirtschaftsregionen und Industrien entstanden. Zu dieser Zeit lebten in Deutschland noch 90 % der Bevölkerung auf dem Land und 80 % von der Landwirtschaft.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden in Deutschland aus kleinen Handwerksbetrieben erste Manufakturen. Mit diesen Manufakturen begann die Massenproduktion und die Arbeitsteilung wurde eingeführt. In der Eifel, im Siegerland, im Sauerland, Oberschlesien oder in Chemnitz im Königreich Sachsen entstanden erste größer Textil, Eisen- und Hüttenbetriebe.
Historisch interessant ist die 1796 gegründete Königlich Preußischen Eisengießerei in Gleiwitz. Diese Eisengießerei setzte den ersten kontinuierlich und nicht mehr wie bis dahin üblich in kleine Chargen produzierenden Koksofen ein.
In verschiedenen Regionen begann Ende des 18. Jahrhunderts die Mechanisierung der Textilherstellung. Wegen der damals noch existierenden innerdeutschen Zollschranken blieben diese Entwicklungen jedoch regional begrenzt. Um das Jahr 1800, so wird geschätzt, waren etwa 100.000 Menschen insgesamt in den Manufakturen beschäftigt. Diese Zeit wird geschichtswissenschaftlich als Protoindustrialisierung oder Vorindustrialisierung und die Manufakturen als Protoindustrie bezeichnet.
Frühindustrialisierung der Wirtschaft ab 1815

Nach dem Ende der napoleonischen Kriege fielen mit der Aufhebung der Kontinentalsperre wichtige Handelsbeschränkungen in Europa. Dies führte zu einer direkten Konkurrenz der deutschen Wirtschaft mit der englischen Industrie. Der Anpassungsdruck stieg dadurch erheblich.
Durch den von Napoleon erzwungenen territorialen Umbruch nach dem Reichsdeputationshauptschluss vom Februar 1803 entstand zudem eine Reihe mittelgroßer Staaten. Viele Kleinstaaten verschwanden und der Warenverkehr wurde vereinfacht.
Grundlegende Reformen – eine Voraussetzung für die Industrialisierung
Weitere Grundvoraussetzungen für die Industrialisierung der Wirtschaft in Deutschland wurden durch verschiedene Reformen geschaffen. Hierzu gehören die Abschaffung der Leibeigenschaft (1808), umfassende Agrarreformen (1807 bis 1816) sowie die Einführung der Gewerbefreiheit (1810 in Preußen) und eine Vereinheitlichung des Steuersystems.
Diese Reformen sind heute als preußische Reformen bekannt, da sie zuerst in Preußen durchgeführt worden. Andere deutsche Staaten folgten später. Zum Teil zogen sich diese Reformen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hin. Einen einheitlichen Wirtschaftsraum gab es aber noch nicht. Dieser entstand erst durch die Gründung des Deutschen Zollvereins im Jahr 1834.
Der Deutsche Zollverein von 1834
Nachdem Preußen innerhalb des eigenen Staates die Zollhindernisse abgeschafft hatte, versuchte es die übrigen Staaten dazu zu bringen, ebenfalls ihre Zollschranken aufzugeben. Dieses Bestreben mündete am 1. Januar 1834 in die Gründung des Deutschen Zollvereins. Unter der Führung Preußens entstand ein Binnenmarkt mit rund 26 Millionen Einwohnern. Nach und nach traten schließlich alle übrigen deutschen Staaten dem Zollverein bei.
Mit der Gründung des Deutschen Zollvereins entfielen die meisten individuellen Zollbestimmungen der einzelnen deutschen Staaten. Der Austausch von Waren und Dienstleistungen zwischen den einzelnen Staatsgebieten war wesentlich einfacher und günstiger.
Erste Eisenbahn- und Schifffahrtsgesellschaften entstehen

Von diesen Entwicklungen profitieren sowohl der Eisenbahnbau wie auch der Schiffsbau. Die Dampflokomotiven für die deutschen Eisenbahngesellschaften wurden in den ersten Jahren noch aus England importiert, nachgebaut und verbessert. Spitzenreiter in Sachen Lokomotivbau in Deutschland war die Firma Borsig in Berlin.
Borsig baute 1841 die erste Dampflok. Bereits 1858 verließ die 1.000 Lokomotive das Werk. Nur ein paar Jahre nach dem Beginn der 1. industriellen Revolution in Deutschland war Borsig mit rund 1.100 Beschäftigten zur weltweit drittgrößten Lokomotivfabrik aufgestiegen.
1840 / 1849 bis 1914 Industrialisierung und 1. industrielle Revolution in Deutschland
Eine genaue zeitliche Einordnung des Beginns der Industrialisierung und der 1. industriellen Revolution in Deutschland ist bei Historikern heute umstritten. Das Jahrzehnt zwischen 1840 und dem Ende der gescheiterten deutschen Revolution 1848/49 gilt allgemein als Übergang von der Vorindustrialisierung zur Industrialisierung.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trieben mehrere Schlüsselindustrien zunächst die Industrialisierung der Wirtschaft in Deutschland voran. Der Eisenbahnbau, der Bergbau und der Maschinenbau spielten eine wichtige Rolle.
Die Rolle der Eisenbahn bei der Industrialisierung in Deutschland
Die Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie zwischen Nürnberg und Fürth fand erst 1835 statt. Sie hatte eine Länge von nur 6 Kilometer. 1840, nur 5 Jahre später waren bereits 500 Schienenkilometer in Betrieb. Das Schienennetz wuchs in den folgenden 10 Jahren auf rund 6.000 km. Mithilfe der Eisenbahn konnten Personen und Güter deutlich schneller und günstiger transportiert werden.
In vielen Städten waren die neuen Eisenbahnwerkstätten Zentren des technologischen Fortschritts und der Ausbildung. Ab 1850 war Deutschland für den Ausbau der Eisenbahn nicht mehr von Technologieimporten aus Großbritannien abhängig. Anders als in Frankreich, wo die Eisenbahn in erster Linie für den Personentransport gebraucht wurde, war das Ziel in Deutschland die Förderung der Industrialisierung.
Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten zahlreiche Eisenbahnlinien durch das Ruhrgebiet und boten eine schnelle Verbindung zu den Überseehäfen in Hamburg und Bremen. Im Jahr 1880 gab es in Deutschland bereits rund 9.400 Lokomotiven. Täglich wurden 43.000 Personen befördert und durchschnittlich 30.000 Tonnen Fracht transportiert.
Unternehmen in Städten mit einem eigenen Bahnanschluss wuchsen schneller als Unternehmen in Städten ohne. Sie waren durchschnittlich doppelt so groß. Die Eisenbahn ermöglichte eine drastische Senkung der Transportkosten und löste Nachfrageeffekte in anderen Bereichen aus. Der Ausbau der Eisenbahn war ausschlaggebend für das Wachstum in den Bereichen Kohleförderung, Eisen- und Stahlproduktion und den Maschinenbau.
Kohle und Stahl – Rohstoffe der 1. industriellen Revolution

Im Laufe der Jahre kauften diese Eisenhütten ihre eigenen Bergwerke und Kokereien, um ihren Bedarf an Gas und Koks zudecken. Die ersten Konzerne entstanden. 1850 förderte ein Steinkohlebergwerk mit durchschnittlich 64 Beschäftigten nur rund 8.500 Tonnen jährlich. Insgesamt betrug die Fördermenge im Ruhrgebiet Mitte des 19. Jahrhunderts 22 Millionen Tonnen. Bis zum Jahr 1913 stieg die Fördermenge auf 114 Millionen Tonnen.
Das Maximum von 123 Millionen Tonnen erreichte die Steinkohleförderung in Deutschland im Jahr 1959. Danach sank die Fördermenge kontinuierlich. 2010 gab es im Ruhrgebiet nur noch 5 Steinkohlenbergwerke. Die Stilllegung von „Prosper Haniel“, der letzten Zeche in Deutschland erfolgte im Dezember 2018.
Eisen und Stahl wird zur günstigen Massenware
Um das Jahr 1850 waren im damaligen Gebiet des Deutschen Bundes nur etwa 13.500 Menschen mit der Roheisen– und Stahlerzeugung beschäftigt. Die jährliche Produktionsmenge betrug etwa 214.000 Tonnen. Die Produktionskapazität stieg durch den wachsenden Bedarf des Maschinenbaus und der Eisenbahn in den zehn Jahren bis 1860 um das 1,5-Fache.
Neue technische Entwicklungen wie das Bessemerverfahren ermöglichten deutlich höhere Produktionsmengen und qualitativ bessere Erzeugnisse. Auf dem Höhepunkt der ersten industriellen Revolution um die Jahre 1870 bis 1873 wurden von rund 76.000 Beschäftigt mehr als 1,6 Millionen Tonnen Eisen und Stahl jährlich produziert.
Hochindustrialisierung ab 1871

Wichtige Erfindungen im Bereich der Chemie, der Pharmazie und der Elektrotechnik beispielsweise durch Werner von Siemens in Berlin trugen dazu bei, dass Deutschland zu den führenden Wirtschaftsnationen aufsteigen konnten. Auch die von Frankreich geleisteten Reparationszahlungen nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 führten zu einem weiteren wirtschaftlichen Aufschwung. Hauptsächlich in dieser Zeit entwickelte sich Deutschland von einem Agrarland zu einer Industrienation.
Um das Jahr 1900 war Deutschland in den Sektoren Stahlerzeugung und Maschinenbau führend und eine der größten Volkswirtschaften in Europa. Hohe Produktionskapazitäten, gut ausgebildete Mitarbeiter und eine protektionistische Politik gegenüber Großbritannien und den USA waren wesentliche Merkmale und entscheidend für den Erfolg der deutschen Wirtschaft in der Zeit bis zum 1. Weltkrieg.
Wandel der Gesellschaft als Folge der Industrialisierung
Die ständig größer werdende Zahl von Fabriken und deren Expansion erfordert immer mehr Arbeitskräfte. So dauert es nicht lange, bis in der Industrie bessere Löhne bezahlt wurden als in der Landwirtschaft. Die Arbeiterklasse entstand. Durch die höheren Einkommen stieg die Nachfrage nach Konsumgütern und Waren des täglichen Bedarfs.
Ab den 1830er und 1840er wurden in Preußen, Sachsen und anderen deutschen Staaten Zuckerrüben, Rüben und Kartoffeln angebaut. Dadurch konnten mehr Nahrungsmittel auf gleicher Fläche für mehr Menschen von weniger Landarbeitern produziert werden. Dies ermöglichte der Landbevölkerung in Industriegebiete zu ziehen.
Die Arbeits- und Lebensbedingungen der unteren Gesellschaftsschichten waren in dieser Zeit jedoch schlecht. Einzimmerwohnungen, in denen 8- bis 10-köpfige Familien lebten, waren in den Industriezentren an der Tagesordnung.
Bismarcks Sozialgesetze

Mit den ersten Sozialgesetzen in Europa versuchte Bismarck, die im Zuge der Industrialisierung in Deutschland entstandene Not der Arbeiterklasse und anderer Gesellschaftsschichten mit geringem Einkommen zu lindern. Der Hintergedanke dabei war wohl, dass Bismarck die Autorität des Staates und der Regierung gegen das immer stärker werdende Proletariat absichern wollte.
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